Was wollen die Nutzer? Wie „mentale Modelle“ bei der Produktentwicklung helfen

Ausschnitt aus einem "mentalen Modell"-Diagramm

Indi Young hat am 16. Juli einen Google Tech Talk zum Thema Digging Beyond User Preferences gehalten. Von dem einstündigen Vortrag hat mir besonders das Konzept des „mentalen Modells“ gefallen, das ich kurz beschreiben möchte.

Einleitung: „Für wen machen wir diese Website eigentlich?“

„Wer sind die Nutzer unseres Produkts und was brauchen sie? Für wen genau machen wir das?“ Diese Fragen diskutiert man oft in der Produktentwicklung. Antworten darauf werden oft mithilfe von Personas formuliert: Imaginäre Nutzer werden möglichst lebendig anhand von Lebensläufen und Tagesablauf beschrieben. Doch wie viel sagen Personas wirklich über die Bedürfnisse und Nutzungsszenarien der Interessengruppe aus? Gerade wenn die empirischen Daten dünn sind, kommen Personas oft nicht über Vermutungen hinaus.

Als Alternative zu Personas schlägt Indi Young von Adaptive Path vor, das mentales Modell der Nutzer zu erforschen. Zur Annäherung sollte man sich nicht an Altersunterteilung oder Geschlecht orientieren, sondern Verhalten, Vorstellungen und Reaktionen der Nutzer in den Mittelpunkt stellen.

Wie erfasst man das „mentale Modell“ der Nutzer? Aus dem Vortrag von Indi Young habe ich vier Schritte zusammengefasst.

Schritt 1: Daten erheben

Um herauszufinden, welche mentalen Modelle die Nutzer haben, empfiehlt Young qualitative Interviews mit Personen, die für das Produkt besonders von Interesse sind. Aus Zeitgründen finden diese meistens am Telefon statt.

Young empfiehlt sechs Regeln für erfolgreiche Telefoninterviews:

  1. Konzentriere Dich auf die Verhaltensweisen und Vorstellungen des Befragten, nicht auf Produkteigenschaften.
  2. Stelle nur offene Fragen.
  3. Überlasse die Wortwahl dem Befragten.
  4. Folge dem Gesprächsfluss.
  5. Es geht nicht um Werkzeuge.
  6. Die unmittelbaren Erfahrungen sind wichtig, sie sollten möglichst kurz zurückliegen.

Schritt 2: Daten sichten und hierarchisch ordnen

In den Transkripten der Interviews sucht man dann nach Aussagen, die das Verhalten, die Philosophie oder die Gefühle der Person wiedergeben und sammelt sie in einer Excel-Tabelle.

Diese atomaren Aussagen müssen dann hierarchisch gegliedert werden. Dafür schlägt Young eine fünfstufige Struktur vor:

Hierarchie:

  • Mentaler Raum
    • Aufgabenbereich
      • Einzelaufgabe, gruppiert
        • Einzelaufgabe, individuell
          • Zitat aus Transkript

Ein Beispiel:

  • Sich mit Leuten über einen Film austauschen
    • Einen Film empfehlen
      • Eine Kritik schreiben
        • Eine Kritik schreiben
          • „…Kritiken schreiben. Ich habe das ein paar Mal gemacht…“
        • Entscheiden, dass Kritiken schreiben Zeitverschwendung ist
          • „…dann entschied ich dass das doof ist…“

Schritt 3: Prozess-Diagramm des mentalen Modells zeichnen

Ist eine solche Hierarchie erstellt, lässt sich daraus ein sehr breites Diagramm zeichnen. Es beschreibt den Prozess, den der Nutzer durchläuft (z.B. ins Kino gehen), von links nach rechts. Spaltenweise zeigt das Diagramm die unterschiedlichen Einzelsituationen auf, denen beim Nutzer dabei auftreten können.

Zu jedes Situation kann man nun „unter dem Strich“ notieren, inwieweit das eigene Produkt den Nutzer unterstützen kann. So werden Schwerpunkte und Lücken des eigenen Produkts sichtbar.

So sieht z.B. das mentale Modell eines Kinogängers als Diagramm aus:

Ausschnitt aus einem "mentalen Modell"-Diagramm
Diagramm-Ausschnitt: "Mentales Modell" eines Kinogängers (Young, 2004).

(Ganzes Diagramm „Movie-Goer Mental Model“ als PDF runterladen)

mentales-modell-ausschnitt
Makro-Ausschnitt, Situation: "Sich mit einem Film identifizieren"
mental_model
Elemente des Diagramms zum mentalen Modells

Schritt 4: Das eigene Produkt im „mentalen Modell“ des Nutzers positionieren

Nun kann man besser einschätzen, wo das eigene Produkt im „mentalen Modell“ des Nutzers vorkommt und wo es ihm helfen kann. Wenn dabei Lücken auffallen, muss das aber nicht heißen, dass diese vom eigenen Produkt gefüllt werden müssen: Wer ins Kino will, muss beispielsweise auch dort parken, und eine Website hilft da nur wenig.

Aber man kann damit vielleicht ein wenig besser entscheiden, wo die Schwerpunkte des eigenen Produkts liegen sollen und sich darauf fokussieren.

Fazit

Wer das „mentale Modell“ des Nutzers systematisch versucht zu verstehen, kann damit ein besseres Produkt gestalten, das dem Nutzer auch wirklich hilfreich ist.

Übrigens: Indi Young hat ein Buch zu diesem Thema geschrieben. Es heißt: Mental Models – Aligning design strategy with human behavior. Man kann es nur online für $19 USD als PDF kaufen, das gedruckte Buch kostet $36 (plus $20 Versand nach Deutschland).